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Fallbeispiel: Nevio – stets zur Stelle, wenns brennt

Tatüta… tatüta… Mit Blaulicht und heulender Sirene kommt Feuerwehrmann Nevio auf allen vieren um die Ecke gesaust. Der 5-Jährige strahlt übers ganze Gesicht. Die Feuerwehr ist seine grosse Leidenschaft. Diese teilt er mit seinen Eltern. In der freiwilligen Feuerwehr üben Stefanie und Lars Z. regelmässig, Brände zu löschen. Doch der Verein bedeutet weit mehr für sie: Er bedeutet soziale Kontakte, Abwechslung vom Alltag und Tanken von Energie. Und diese können die beiden dringend gebrauchen. 

«Aktuell sind wir praktisch 24 Stunden im Einsatz. Denn seit Nevios Hüftoperation im Januar muss er nachts ein Gschtältli tragen, das ihn sehr stört und ihn nicht schlafen lässt. Seit Wochen stehe ich darum jede Nacht mindestens fünfmal auf. Und das setzt einem einfach zu», erzählt Mutter Stefanie müde, während sie Nevios kleine Schwester Milena (7 Monate) im Arm schaukelt und zu beruhigen versucht. Sie ist ein gesundes Baby, ganz im Gegensatz zu Bruder Nevio. Der 5-jährige Blondschopf mit den grossen dunklen Augen befindet sich auf dem Entwicklungsstand eines etwa anderthalbjährigen Kindes, so die Einschätzung von Fachleuten. Nevio versteht wohl alles, kann aber nicht sprechen und hat starke motorische Einschränkungen. Ursache ist ein bislang unbekannter genetischer Defekt, für den es aktuell noch keine Bezeichnung respektive keinen Namen gibt.  

Kleiner Hick mit grosser Auswirkung 

Dass etwas mit ihrem Baby auffällig war, merkte die Mutter schon relativ bald nach der Geburt. Denn Nevio bewegte sich anders als andere Kinder, war instabiler und konnte seinen Kopf lange Zeit nicht selbst heben. Im Alter von anderthalb Jahren äusserte Nevios Kinderärztin aufgrund seines leicht auffälligen Aussehens dann den Verdacht, dass die Entwicklungsverzögerung möglicherweise genetisch bedingt sein könnte. Eine Genanalyse bestätigte, dass sich tatsächlich irgendwo ein «Fehler» in der genetischen Erbanlage von Nevio eingeschlichen haben musste. Erst ein Jahr und viele weitere Abklärungen später aber fanden die Humangenetikerinnen und -genetiker das fehlerhafte Gen. «Alles, was ich weiss, ist, dass eines von Nevios Genen eine Art Hick hat», fasst Stefanie Z. ihre Kenntnisse zusammen. «Und dass Nevio bislang der einzige bekannte Fall mit diesem Gendefekt ist. Zumindest hat man weltweit bis heute keine Kenntnis von einem zweiten.» 

Stefanie und Lars Z. haben, genauso wie die behandelnden Ärztinnen und Ärzte, keine Ahnung, wie sich Nevio noch entwickeln, welche Fähigkeiten er sich noch aneignen wird. Eine Situation, die positive und negative Seiten hat. «Einerseits wissen wir nicht, was auf uns zukommt. Andererseits, gerade weil wir es nicht wissen, sind wir gezwungen, alles zu nehmen, wie es kommt, und uns einfach darauf einzulassen», sind sich die Eltern einig.  

Ständiger Kampf um Leistungen 

Genauso einig sind sie sich aber auch darin, was den Nachteil einer so seltenen respektive einzigartigen Krankheit betrifft. Denn: Sie ist nirgends auf der Liste der von der IV anerkannten Geburtsgebrechen zu finden. Und was das bedeutet, davon kann Familie Z. – wie übrigens ganz viele andere Familien mit einem Kind mit seltenen Behinderungen – ein Lied singen. Ist eine Beeinträchtigung nämlich nicht auf dieser Liste, sind die zu bezahlenden Leistungen nicht klar geregelt. Heisst: Um jedes Hilfsmittel und um jede Therapie muss mit der Versicherung gerungen werden. Ein zermürbender Kampf, der die so oder so schon geforderten Eltern nicht nur den letzten Nerv kostet, sondern oft auch das letzte Hemd. 

Stefanie und Lars Z. versuchen, mit Ideenreichtum und Kreativität Lösungen für Nevio zu finden, wenn für ein dringend benötigtes Hilfsmittel keine finanzielle Unterstützung gesprochen wird. «Wir leben nach dem Motto: ‹Hilft dir keiner, dann hilf dir selbst›», bringt Vater Lars das Dilemma auf den Punkt.  

Geholfen hat ihnen in den letzten Jahren vor allem die Mütter-Väter-Beratung (MüVä) im Nachbarsdorf. Eine der Beraterinnen war es dann auch, die bemerkte, dass Stefanie kurz vor einem Burn-out stand. «Ich kam an den Punkt, an dem ich einfach nicht mehr konnte», blickt Stefanie auf die intensive Zeit zurück. «Ich fühlte mich nur noch als Taxidienst und Betreuerin. Für alles andere blieb keine Zeit. Am allerwenigsten für mich.» Denn Nevios Alltag wird praktisch seit seiner Geburt von verschiedenen Therapie-Terminen bestimmt. Mindestens zwei pro Tag sind es im Moment. Er benötigt Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie. Daneben ermöglichen ihm die Eltern noch eine Reittherapie, weil sie merken, wie gut diese dem Buben tut. «Es ist einfach wahnsinnig viel. Und Milena hat schliesslich auch ihre Bedürfnisse. Sie läuft einfach so nebenher mit. Aber sie macht es super», so Stefanie. 

Entlastung dank Kita 

Seit einiger Zeit darf Stefanie Z. einmal die Woche auf die Unterstützung einer Haushaltshilfe zurückgreifen, die von Pro Infirmis finanziert wird. Eine «echte» Pause hat die eingespannte Mutter mittlerweile aber dann, wenn Nevio in die Kita geht. Zur grossen Erleichterung der Familie übernimmt Pro Infirmis auch die Kosten für die zwei externen Betreuungstage. «Die Entlastung von Stefanie durch den Kita-Besuch ist das eine», so Lars. «Der Kontakt zu anderen Kindern das andere. Denn Nevio ist sehr gerne mit anderen Kindern zusammen. Er beobachtet sie genau. Und versucht, von ihnen zu lernen. Aufgrund seiner stark eingeschränkten Motorik ist das Spielen mit anderen Kindern allerdings sehr schwierig für ihn.» Viel Freude zeigt Nevio – vielleicht gerade deshalb – im Umgang mit Babys. Auch mit Schwesterchen Milena ist er sehr sanft und innig. «Die zwei sind ein Herz und eine Seele, und das seit dem ersten Tag», ist Stefanie Z. dankbar.  

Feuerwehr-Fan 

Dankbar sind Stefanie und Lars Z. auch für ihre grosse gemeinsame Leidenschaft: die freiwillige Feuerwehr. Zwar können sie heute nicht mehr gemeinsam an den Übungen teilnehmen, da immer jemand von ihnen bei Nevio sein muss. Doch abwechselnd finden beide Elternteile hier ein paar Stunden, in denen sie unbelastet die Zeit mit ihren Kolleginnen und Kollegen aus den umliegenden Dörfern geniessen können. Und nicht nur das: Die Leidenschaft für die Feuerwehr ist auch auf Nevio übergesprungen. Auf dem Fussboden des Wohnzimmers reiht sich Feuerwehrauto an Feuerwehrauto. Eines grösser und lauter als das andere. Hier findet Nevio die Musse, sich ganz allein eine kurze Weile selbst zu beschäftigen. Sein anderes Hobby ist die Schublade mit den Zeitschriften. Diese räumt er aus und ein und aus und ein. «Vor allem aus…», lacht Stefanie Z. und räumt die Unordnung weg. «Es ist eben schon alles gut so, wies ist», stellt sie dabei fest. «Wir würden Nevio nie mehr hergeben, gell, Lars?» 

Wichtiger nächster Schritt 

Eine weitere Herausforderung für die Familie steht kurz bevor. Die vierköpfige Truppe hat im Nachbardorf eine neue Wohnung gefunden. Diese ist etwas günstiger und entlastet das Budget der Familie. Zudem wird der Garten von der Verwaltung gemacht. Ein Task mehr auf der langen To-do-Liste, der für die Eltern wegfällt. «Und dann», hoffen Lars und Stefanie Z., «kehrt vielleicht einmal etwas Ruhe ein.» Die Chancen hierfür stehen nicht schlecht. Denn Nevio erholt sich langsam, aber stetig von seiner Hüftoperation, weitere Eingriffe sind nicht geplant. «Sobald sich Nevio wieder schmerzfrei und selbstständig fortbewegen kann, kommt der Rollstuhl weg», erzählt Stefanie Z. «Darauf freue ich mich sehr.» 

Und noch etwas bereitet der Familie Freude. Genauer: Vorfreude. Nevios Einschulung steht bevor. Schon bald wird Nevio eine heilpädagogische Schule besuchen, wo er zusammen mit anderen Kindern ganz viel lernen, ausprobieren und erleben darf.  

Wir wünschen ihm und seiner Familie alles Gute für die kommenden kleinen Schritte, genauso wie für ihre Fahrt ins nächste grosse Abenteuer – ob mit oder ohne Martinshorn. 

«Wir leben nach dem Motto: ‹Hilft dir keiner, dann hilf dir selbst.»

Lars Z., Vater von Nevio

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