Grundschule
Kinder und Jugendliche haben einen verfassungsmässig garantierten Anspruch auf ausreichenden und unentgeltlichen Grundschulunterricht. Der Grundschulunterricht soll die Kinder und Jugendlichen auf ein selbstverantwortliches Leben in der Gesellschaft vorbereiten und sich dabei an ihren individuellen Fähigkeiten und Möglichkeiten ausrichten. Dieser Anspruch gilt auch für behinderte Kinder und Jugendliche.
Die Verantwortung für den Grundschulunterricht tragen die Kantone. Sie haben dabei ein grosses Ermessen bei der Umsetzung. Allerdings müssen sie die Vorgaben der Bundesverfassung, insbesondere des Diskriminierungsverbotes, beachten.
Kinder und Jugendliche mit Behinderung
Eine Person gilt als behindert im Sinne des Behindertengleichstellungsrechts, wenn sie in ihren körperlichen, geistigen oder psychischen Fähigkeiten auf Dauer beeinträchtigt ist und die Beeinträchtigung je nach ihrer Form schwerwiegende Auswirkungen auf elementare Aspekte der Lebensführung hat.
Für Kinder und Jugendliche während der Schulzeit bedeutete dies, dass sowohl schwerwiegende Einschränkungen im schulischen Können wie auch in den Sozialbeziehungen als Behinderung gelten. Die körperliche, geistige oder psychische Beeinträchtigung muss voraussichtlich von einer gewissen Dauer sein. Im Bereich der Schule kann davon ausgegangen werden, dass sich die Beeinträchtigung zumindest über ein Schuljahr erstrecken sollte.
Beispiel
Die 7-jährige Schülerin S hat eine schwere Hautkrankheit. Schon bei leichten körperlichen Kontakten springt ihre Haut auf. Die Behinderung von S wirkt sich nur auf ihre Sozialbeziehungen aus, ihr schulisches Können ist nicht betroffen. In der Schule muss S vor allem in den Pausen von einer Assistenzperson begleitet werden, damit die anderen Kinder sie beim Spielen nicht unabsichtlich verletzen. Nur mit Unterstützung dieser Person kann S in die Regelschule gehen. Zur Verwirklichung ihres Anspruchs auf ausreichenden Grundschulunterricht muss die Schulbehörde daher eine Assistenzperson für S organisieren und finanzieren.
Dauer des Anspruchs
Der Anspruch auf ausreichenden und unentgeltlichen Grundschulunterricht gilt für die Dauer der obligatorischen Schulzeit. Diese umfasst die Primarschule und die Sekundarstufe I. Behinderte Kinder und Jugendliche haben darüber hinaus einen Anspruch auf Sonderschulunterricht bis längstens zum 20. Lebensjahr.
Öffentliche und private Grundschulen
Gemäss Bundesverfassung fällt die Regelung der Grundschule in die Kompetenz der Kantone. Öffentliche Grundschulen unterstehen der Leitung des Kantons und sind unentgeltlich, private Grundschulen werden vom Kanton beaufsichtigt und müssen in der Regel von den Eltern selbst bezahlt werden. Sowohl öffentliche als auch private Grundschulen müssen behinderten Kindern und Jugendlichen einen Grundschulunterricht bieten, der diskriminierungsfrei ist.
Ausreichend ist nicht gleich optimal
Der Anspruch auf ausreichenden Grundschulunterricht gewährleistet auch behinderten Kindern und Jugendlichen einen Anspruch auf einen ihren individuellen Fähigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten angepassten Unterricht, der sie – soweit es ihre Fähigkeiten ermöglichen – auf ein selbstverantwortliches und selbständiges Leben in der Gesellschaft vorbereiten soll. Dies bedeutet allerdings nicht, dass ein Anspruch auf die bestmögliche oder optimale Schulung besteht.
In der Praxis müssen Schulbehörden bei ihren Entscheiden in erster Linie den Anspruch des Kindes auf ausreichenden Grundschulunterricht berücksichtigen. Ist dieser nur mit hohen Kosten zu erreichen, müssen die Schulbehörden ihn finanzieren. Stehen allerdings zwei gleichwertige Varianten zur Verfügung, die beide dem Anspruch auf ausreichenden Grundschulunterricht gerecht werden, darf die Schulbehörde die günstigere Variante wählen. Auch die schulischen Abläufe dürfen berücksichtigt werden, wenn es beispielsweise um die Frage des Grads der Integration geht. Allerdings dürfen organisatorische Fragen allein nicht ausschlaggebend sein, um eine integrative Schulung eines behinderten Kindes abzulehnen. Primär sind immer das Wohl des Kindes und sein Anspruch auf ausreichenden Grundschulunterricht zu beachten.
Beispiel
Der Jugendliche M hat eine Autismus-Spektrum-Störung, die ihn in seinen Sozialbeziehungen schwer beeinträchtigt. Er besucht die öffentliche Regelschule in seiner Wohngemeinde und wurde dort bisher stundenweise von einer Fachperson unterstützt, die eine spezielle Ausbildung für den Bereich der Autismus-Spektrum-Störung hat. Diese hat aus privaten Gründen auf das kommende Schuljahr gekündigt. Die Schulleitung teilt den Eltern von M nun mit, dass dieser ab dem kommenden Schuljahr in eine Sonderschule wechseln müsse, da es für die Schule organisatorisch zu aufwendig sei, eine Ersatzperson zu finden. Die Eltern wehren sich erfolgreich gegen diesen Entscheid der Schule, da es dem Anspruch von M auf ausreichenden Grundschulunterricht widerspricht, ihn nur aufgrund organisatorischer Schwierigkeiten in eine Sonderschule zu schicken. Es liegt in der Verantwortung der Schulbehörde, eine geeignete Ersatzperson zu organisieren und zu finanzieren.
Integration vor Separation
In der Schweiz besteht grundsätzlich ein Vorrang der integrativen Schulung vor der separativen. Dies bedeutet, dass unter Beachtung des Wohls des Kindes und der Verhältnismässigkeit primär eine Schulung von behinderten Kindern und Jugendlichen in der Regelschule erfolgen soll.
Entspricht ausschliesslich die integrative Schulung den Anforderungen des ausreichenden Grundschulunterrichts, so ist diese durchzuführen. Nur wenn diese dem Wohl des behinderten Kindes widerspricht oder wegen zu grossem Aufwand an Unterstützung unverhältnismässig wird, kann eine separative Schulung in Betracht gezogen werden.
Nicht relevant ist es, aus welchem Topf notwendige Unterstützungsmassnahmen wie heilpädagogische Unterstützung, Assistenz etc. bezahlt werden. Daher kann es sein, dass ein behindertes Kind mit heilpädagogischer Unterstützung in der Regelschule geschult wird, aber dennoch in der Finanzierung als Sonderschüler gilt. Relevant ist, dass das behinderte Kind gemeinsam mit Kindern ohne Behinderung in einer Regelschule in einer Regelklasse geschult wird.
Beispiel
Der Schüler P hat eine leichte geistige Behinderung und hat bisher den Regelkindergarten besucht. Aufgrund seiner Behinderung hat er vier Stunden pro Woche Unterstützung durch eine Fachperson erhalten. Diese wurde vom Kanton über das System der Regelschule finanziert. Mit dem Wechsel in die Primarschule benötigt P mehr Unterstützungsstunden. Diese will der Kanton nun aus dem Topf der Sonderschulen finanzieren und P soll daher finanztechnisch dem System der Sonderschule zugeordnet werden. Da P weiterhin integriert in einer Regelschule und einer Regelklasse geschult wird, ist es für seinen Anspruch auf ausreichenden Grundschulunterricht nicht relevant, aus welchem Topf der Kanton die Unterstützungsstunden finanziert.
Kein Einverständnis mit der Entscheidung der Schulbehörde – was tun?
Entscheide von Schulbehörden für oder gegen eine integrative Schulung, über die Anzahl von heilpädagogischen Unterstützungsstunden, die Wahl einer Schule oder ähnliche wichtige Fragen stehen manchmal nicht im Einklang mit den Vorstellungen oder Wünschen von Eltern von behinderten Kindern.
Entscheidungen von Schulbehörden über wichtige Fragen müssen grundsätzlich in Form einer anfechtungsfähigen Verfügung mitgeteilt werden. Gegen diese können Eltern eine Beschwerde an die nächst höhere Instanz einreichen. Wird ein Entscheid nicht in Form einer Verfügung mitgeteilt, können die Eltern den Erlass einer Verfügung verlangen. Dies ist notwendig, da nur gegen einen schriftlichen Entscheid Beschwerde geführt werden kann.
Beispiel
Die Eltern von M erfahren bei einem Standortgespräch, dass die Schulleitung M ab dem kommenden Schuljahr nicht mehr in der Regelschule unterrichten will. Die Direktorin hat sich bereits um eine Anmeldung in einer heilpädagogischen Schule gekümmert und den Eltern wird eine diesbezügliche Vereinbarung vorgelegt, welche sie sofort unterschreiben sollen. Die Eltern von M sind mit dem Entscheid nicht einverstanden und unterschreiben nicht. Im Gegenteil verlangen sie von der Schule einen schriftlichen Entscheid über die geplante separative Schulung, gegen den sie sich zur Wehr setzen werden.
Beschwerden gegen Verfügungen müssen eine Begründung enthalten und sind an Fristen gebunden, welche unbedingt zu beachten sind. Die Dauer der Frist, der notwendige Inhalt der Beschwerde und die Stelle, an welche die Beschwerde zu richten ist, sind in der Rechtsmittelbelehrung enthalten, die jeweils am Ende einer Verfügung steht.
Häufig ist es notwendig, die Beschwerde mit Zeugnissen oder Gutachten von Fachpersonen (Ärzten, Psychologen, Logopäden etc.) zu ergänzen, da „nur“ die Meinung der Eltern nicht ausreicht, um den Entscheid einer Behörde anzufechten, der sich meistens auf Berichte der schulpsychologischen Dienste stützt.
Da die Verfahren je nach Kanton sehr unterschiedlich sind, empfiehlt es sich, rechtzeitig – das heisst wenn möglich schon vor Erhalt einer negativen Verfügung – den Rat einer auf das jeweilige kantonale Schulrecht spezialisierten Anwaltskanzlei oder einer kompetenten Fachstelle einzuholen.
Kostenübernahme bei Privatschulung?
Häufig kommt es vor, dass es kein ausreichendes öffentliches Schulangebot für behinderte Kinder in der Wohngemeinde gibt. In diesen Fällen werden behinderte Kinder von den Schulbehörden zum Teil in weiter entfernte öffentliche Schulen geschickt, welche ein der Behinderung angemessenes Bildungsangebot haben. Oft sind Eltern mit dieser Entscheidung nicht einverstanden und schicken ihr Kind dann von sich aus in eine Privatschule mit entsprechendem Angebot, die näher beim Wohnort liegt.
Grundsätzlich sind die Schulbehörden in diesen Fällen nicht verpflichtet, die Kosten der Privatschule zu übernehmen. Nur in speziellen Ausnahmefällen kann es zu einer Kostenübernahme durch den Kanton kommen. Daher sollte vor der Wahl einer Privatschule genau abgeklärt werden, wer für die Kosten aufkommt.
Beispiel
Die Schülerin J hat eine schwere psychische Behinderung, die dazu führt, dass sie bei Lärm und zu vielen Kindern in ihrer Nähe panisch reagiert. Sie benötigt daher eine spezielle Förderung, die sie langsam an andere Kinder heranführt, damit sie ein Mindestmass an sozialer Integration erfährt. Bisher hat J einen Sonderkindergarten in der Nähe ihres Wohnortes besucht. Die Eltern haben J mit dem Privatauto in den Kindergarten gefahren, da sie aufgrund ihrer Behinderung ärztlich nachgewiesen nicht mit anderen Kindern in einem Schultransport fahren kann. Mit dem Wechsel in die Primarschule hat die kantonale Schulbehörde beschlossen, J ab dem kommenden Schuljahr in eine Sonderschule zu schicken, die gut auf ihre Behinderung eingehen und sie entsprechend fördern kann.
Diese Schule ist allerdings 45 Minuten Fahrzeit von ihrem Wohnort entfernt. Die Eltern könnten J daher nicht dorthin fahren. Da J aber nicht 45 Minuten mit anderen Kindern in einem Schultransport fahren könnte, wäre ihr der Schulweg nicht zumutbar. Folglich entschliessen sich ihre Eltern, sie in eine näher gelegene Privatschule zu schicken, die ebenfalls gut auf ihre behinderungsbedingte Bedürfnisse eingehen kann. Da auch der Schulweg Teil des Anspruchs auf ausreichenden Grundschulunterricht ist und nicht unzumutbar sein darf, stehen die Chancen gut, dass der Kanton die Privatschulung in diesem speziellen Fall übernehmen muss.
Rechtliche Grundlagen
- Recht auf Bildung in der UNO-Behindertenrechtskonvention:
Art. 24 BRK - Anspruch auf ausreichenden und unentgeltlichen Grundschulunterricht:
Art. 19 BV - Regelung der Grundschule als kantonale Kompetenz:
Art. 62 Abs. 2 BV
- Anspruch auf Sonderschulunterricht für Kinder und Jugendliche mit Behinderung bis längstens zum 20.Lebensjahr:
Art. 62 Abs. 3 BV - Interkantonale Vereinbarung über die Zusammenarbeit im Bereich der Sonderpädagogik vom 25. Oktober 2007 (Sonderpädagogik-Konkordat)
- Schulgesetze der Kantone