Fallbeispiel: Melina zeigt, dass sie leben will.
«Dass Melina heute noch bei uns ist, ist alles andere als selbstverständlich,» erzählt Mutter Vreni H. Denn das Leben des 6-jährigen Mädchens hing bereits mehrmals an einem seidenen Faden. Doch jedesmal hat sich Melina zurück gekämpft und allen gezeigt, dass sie noch eine ganze Weile bei ihrer Familie bleiben möchte.
Melina ist als jüngstes von drei Kindern geboren. Wie bei ihrer Schwester Laura (10 Jahre) und ihrem Bruder Manuel (8 Jahre) verlief die Schwangerschaft ohne Komplikationen. Doch kaum auf der Welt, zeigte sich, dass Melina nicht richtig atmen konnte. Sofort wurde das Neugeborene intubiert und beatmet und mit der Baby-Ambulanz von Altdorf nach Luzern gebracht. Dort stellten die Ärzte eine Zwerchfellhernie fest – ein Loch im Zwerchfell, durch welches die Bauchorgane in den Brustraum gerutscht waren und der Lunge den Platz zum Atmen nahmen. Doch damit nicht genug. Weitere Untersuchungen ergaben, dass Melina zusätzlich an einem schweren Herzfehler litt. Die Ärzte waren sich einig: Dass Melina es überhaupt bis hierher geschafft hatte, grenzte an ein Wunder.
Für die Operation am Herzen musste Melina ins Kinderspital nach Zürich überführt werden. Für die Eltern eine gewaltige Herausforderung. «Wir hatten wahnsinnige Angst um Melina. Und als wäre diese Belastung nicht schon gross genug, kam das ewige Hin und Her zwischen Spiringen und Zürich hinzu,» erzählt Vater Wisi. Denn daheim im Schächental warteten Melinas Geschwister, die damals gerade mal zwei und vier Jahre alt waren und ihre Eltern genauso brauchten.
Gewissheit dank Genetik
Erst eine ausführliche genetische Untersuchung brachte den Eltern schliesslich Gewissheit. Melina hat einen sehr seltenen Gendeffekt. Weltweit sind bis heute nur rund 70 Fälle bekannt.«Obschon die Diagnose nicht wirklich viel an der Situation änderte, war es dennoch eine grosse Erleichterung, endlich zu wissen, was mit dem eigenen Kind los ist,» so Vreni.
Im Alter von zwei Jahren musste Melina eine weitere Operation am Herzen über sich ergehen lassen. «Melinas Leben hing erneut an einem seidenen Faden. Sie hatte zuvor schon drei Herzstillstände erlitten, musste jedesmal reanimiert werden. Jetzt war allein schon die Narkose eine Frage von Leben oder Tod,» erinnert sich Mutter Vreni. Doch auch diesmal hat sich Melina fürs Leben entschieden.
Nach diesem Eingriff kehrte endlich etwas Ruhe und eine gewisse Normalität ins Leben der Familie ein. Doch leider dauerte es nicht lange, bis Melina eine weitere Komplikation entwickelte. «Vor etwas mehr als drei Jahren, im 2018, hatte Melina einen akuten Darmverschluss und musste notfallmässig operiert werden. Wir hatten unglaubliche Angst, dass Melina ins Licht gehen würde.» Doch auch diesmal kämpfte Melina wie eine Löwin um ihr Leben. Auch die Herz-/Lungenprobleme im Jahr 2019, die schwere Blutvergiftung mit Multi-Organversagen zwei Jahre später oder die Infektion mit dem RS-Virus, einer schweren Atemwegsinfektion, im 2021 überstand Melina. Allesamt Situationen, die akut lebensbedrohlich waren. Die Eltern sind sich dessen bewusst. Genauso wie Melinas Geschwister. «Vor allem Laura realisiert ganz genau, was mit Melina geschieht oder geschehen könnte. Die Situation beschäftigt sie sehr,» so Mutter Vreni.
«Wir hatten unglaubliche Angst, dass Melina ins Licht gehen würde.»
Ungewisse Zukunft
Mittlerweile ist Melina rund um die Uhr auf zusätzlichen Sauerstoff angewiesen. Auch nachts muss immer jemand da sein und sofort reagieren können, falls Melina im Schlaf die Sauerstoffbrille verliert und der Überwachungsmonitor Alarm gibt. «Damit wir auch einmal durchschlafen können, übernimmt zweimal die Woche jemand von der Kinderspitex die Nachtwache,» erzählt Wisi. Zudem kommt wöchentlich zweimal für fünf Stunden eine Assistenzperson, die Mutter Vreni bei der täglichen Pflege und Betreuung von Melina unterstützt und entlastet. «Oft nutze ich die Zeit, um in der Natur Kraft zu tanken. Zum Beispiel auf dem Mountain-Bike oder beim Laufen», erzählt Vreni. Nahrung und Medikamente bekommt Melina über eine Magensonde zugeführt.
Seit gut einem halben Jahr besucht Melina eine Heilpädagogische Sonderschule in Luzern, wo sie von Montag bis Donnerstagmittag bleibt. Mit der Einschulung habe Melina grosse Fortschritte gemacht, stellt Vreni fest. So könne sie zum Beispiel Wörter wie Mama, Papa, Ja oder Nein sagen und ihren Willen klarer zum Ausdruck bringen. Auch ein Tablet hat sie erhalten, das sie in der Kommunikation unterstützen soll. Denn obschon Melina mit massiven kognitiven und körperlichen Einschränkungen lebt, versteht sie praktisch alles.
Wie sich Melina entwickeln wird, welche Fortschritte sie noch machen kann oder welche Lebenserwartung sie hat – darüber macht sich die Familie keine grossen Gedanken. Alle sind sich einig: «Wir freuen uns über jeden Tag, den Melina bei uns ist». Und Vreni ergänzt: «Melina fordert viel. Aber sie gibt uns auch enorm viel zurück. So auch die Kraft und die Zuversicht weiterzumachen.»
«Melina verbrachte rund neun Monate ihres ersten Lebensjahrs im Krankenhaus.»