Fallbeispiel: Runa – ein kleiner Schatz mit grossem Herzen
Wo Runa (6) auftaucht, da geht die Sonne auf. Denn das quirlige Mädchen mit den dunklen Augen und den wilden Locken ist praktisch immer gut gelaunt und geht mit offenen Armen und offenem Herzen durch die Welt. Mit ihrer unbeschwerten Art, so ist Mutter Carmen E. überzeugt, macht Runa es sich und anderen einfach. Doch wirklich einfach ist das Leben der fünfköpfigen Familie aus dem Aargau dennoch nicht.
«Bereits während der Schwangerschaft hat man im Ultraschall gesehen, dass einer der Zwillinge viel kleiner war als der andere», erzählt Carmen E. rückblickend. Relativ rasch fiel der Verdacht auf Trisomie 21. Eine Diagnose, welche die Eltern annehmen und gut akzeptieren konnten. «Natürlich war die Tatsache, dass eines unserer Kinder mit Behinderungen zur Welt kommen würde, im ersten Moment ein Schock. Schliesslich verbindet man mit einer Schwangerschaft immer viele Hoffnungen und Wünsche. Von daher war sicher eine Enttäuschung da», sagt Carmen E. ehrlich. Das Wichtigste für die Eltern jedoch war, dass das Leben ihres Kindes nicht mit Schmerzen oder Leiden verbunden sein würde. «Am Ende war es ein Annehmen», fasst Papa Alex E. die Situation zusammen. «Denn wir konnten respektive wollten nichts ändern. Ein Kind mit Down-Syndrom kann schliesslich genauso glücklich sein wie ein gesundes Kind.» Und Carmen E. ergänzt: «Je länger wir über das Thema sprachen, desto vertrauter wurde uns die Situation. Schliesslich haben wir entschieden, das Ganze einfach auf uns zukommen zu lassen.»
Ratlos trotz Diagnose
Dann waren Runa und ihr Zwillingsbruder Valentin da. Zur grossen Überraschung allerdings hatte Runa keine Anzeichen einer Trisomie 21. Dennoch zeigten sich im Laufe der ersten paar Lebenswochen unterschiedliche Auffälligkeiten. Was Runa aber genau hatte, brachten genauere Untersuchungen erst Monate später zutage. Im Alter von anderthalb Jahren stand die Diagnose endgültig fest: Runa hat einen äusserst selten auftretenden Gendefekt, DD3X3 genannt. Weltweit sind nur 600 Fälle bekannt, in der Schweiz drei. Einer davon: Runa.
Zu wissen, was die eigene Tochter hat, war zum einen eine Erleichterung für die Eltern. Zum andern aber machte sich auch eine grosse Verunsicherung bemerkbar. Denn trotz intensiver Recherche fanden die Eltern nichts, was ihnen im Umgang mit der Krankheit helfen würde oder dazu beitragen könnte, die Entwicklung ihres Kindes besser zu verstehen. «Vor allem die Anfangszeit war schwierig», erzählt Alex E. «Runa konnte nicht trinken und nicht essen, musste über eine Magensonde ernährt werden. Auch das Atmen fiel ihr schwer, vor allem nachts hatte sie grosse Mühe, genügend Luft zu bekommen.» Carmen E. erinnert sich an diese belastende Zeit, als wäre es gestern gewesen: «Mein Mann und ich waren Tag und Nacht auf den Beinen. Denn neben Runa hatten wir ja noch Zwillingsbrüderchen Valentin und unseren älteren Sohn Silvan, der damals gerade drei geworden war. Unser Leben fühlte sich an wie ein Marathon.»
Am Ende der Kräfte – vor allem am Anfang
Die immense Dauerbelastung führte dazu, dass den Eltern die Kräfte schwanden. Möglichkeiten, neue Energie zu tanken, ergaben sich kaum. Dafür fehlte schlicht die Zeit. «Damals waren wir körperlich und seelisch am Anschlag. Und hätten den Rank ohne Unterstützung wahrscheinlich nicht mehr gekriegt», so Carmen E. Erst dank dem Entlastungsdienst von Pro Infirmis ist es der Familie gelungen, zur Ruhe zu kommen. «Die regelmässigen Pausen haben uns erlaubt, uns auch einmal ganz bewusst um unsere anderen Kinder zu kümmern. Oder um uns selbst.»
Wie nötig dies war, zeigte auch das Verhalten von Bruder Silvan. Auf seine damals noch sehr kindliche Art gab er zu verstehen, dass Runa zu viel Raum einnahm. «Silvan wollte anfangs von Runa nichts wissen, war eher ablehnend ihr gegenüber», erzählt Carmen E. «Aber das ist verständlich. Denn Runa hat unsere Aufmerksamkeit sehr beansprucht. Die vielen Arzttermine, die Therapiestunden, das Ernähren über die Magensonde. Es drehte sich tatsächlich vieles um Runa. Dass ein Kind mit drei Jahren das nicht verstehen kann und emotional darauf reagiert, ist absolut nachvollziehbar.»
Ungewisse Zukunft
Mittlerweile sind fast sechs Jahre vergangen, und die Familie ist aus dem Gröbsten raus. Silvan ist bereits neun Jahre alt, die Zwillinge Valentin und Runa sind vor Kurzem sechs geworden. In Bezug auf Runa ist diese Zahl allerdings wenig aussagekräftig. Aufgrund ihrer Behinderungen ist sie geistig auf dem Entwicklungsstand eines anderthalb- bis zweijährigen Kleinkindes, so die Einschätzung ihrer Ärztinnen und Ärzte. Bis heute kann Runa nicht sprechen. Zudem zeigt sie kognitiv und motorisch starke Defizite. Zwar kann sie gehen, doch für längere Distanzen benötigt sie wegen ihrer schwachen Muskulatur den Rollstuhl. «Runa macht stetig Fortschritte», erklärt Carmen E. «Sie kann lautieren oder nutzt ihre eigenen Gebärden, um sich mitzuteilen oder zum Ausdruck zu bringen, was sie möchte.» Wie sich Runa noch entwickeln wird, was sie noch erlernen wird und was nicht, kann niemand vorhersagen.
Seit einiger Zeit geht Runa zur Schule. Die Eltern haben für sie einen Platz in einer heilpädagogischen Einrichtung gefunden, in der sie jeweils die Vormittage verbringt. «Runa ist sehr gerne dort», erzählt Alex E. «Die sozialen Kontakte mit anderen Kindern tun ihr gut. Sie vermisst sie, wenn sie zu Hause ist, das spüren wir. Denn kommen Freunde zu uns, ist der Besuch in der Regel für die Jungs.» Diese lassen ihre Schwester zwar oft mitmachen, zum Beispiel wenn sie Fangen spielen. Doch irgendwann, so Mutter Carmen E., wollten die Buben dann auch für sich sein und in Ruhe ihr Ding machen. Das sei jeweils nicht ganz einfach, und Runa verstehe nicht, warum sie jetzt das Zimmer verlassen müsse.
Kleines Budget – grosses Thema
Viel Raum nimmt Runa bis heute ein. Nicht nur im Familienkosmos, sondern auch im kleinen Ford Fiesta, mit dem die fünf immer mal wieder unterwegs sind. «Wenn wir Runas Rollstuhl im Kofferraum verstaut haben, ist dieser voll. Zu fünft pferchen wir uns dann in das winzige Auto», erzählt Carmen E. und muss ob dem Bild, das sie jeweils abgeben, selbst lachen. «Wir bräuchten dringend ein grösseres Auto. Denn die Kinder werden nicht kleiner.» Den Antrag um finanzielle Unterstützung haben sie bereits bei der Pro Infirmis Aargau eingereicht. Noch ist der Entscheid ausstehend.
Das Budget ist bei Familien mit einem Kind mit Behinderungen fast immer ein Thema. So auch bei Familie E. Denn die Betreuung von Runa nimmt viel Zeit in Anspruch. Zeit, die letzten Endes bei der Erwerbsarbeit zu kurz kommt. «Ich arbeite 60 Prozent beim Bund, mein Mann ist selbstständig und kümmert sich, während ich arbeite, um die Kinder. Da kommt am Ende des Monats nicht allzu viel zusammen», konstatiert die studierte Germanistin Carmen E.
Jammern möchte die Familie aber nicht. Im Gegenteil: Sie empfindet das Leben mit Runa als Geschenk. «Das Leben mit Runa ist eine grosse Chance, eine Art Lebensschule», sind sich die Eltern einig. «Vor allem auch für Silvan und Valentin. Dank Runa können sie erfahren, dass auch ein ‘anderes’ Leben ein gutes sein kann, und dass man mit wenig glücklich werden kann.»
Glücklich ist die Familie auch über die Unterstützung durch Pro Infirmis. Sei es über den Entlastungsdienst, der den beanspruchten Eltern in der Anfangszeit wöchentlich eine Verschnaufpause ermöglicht hat. Oder sei es darüber, dass immer und in jeder Situation eine Ansprechperson da war – und ist, an die sich Carmen und Alex E. mit ihren Sorgen und Ängsten direkt wenden können. Und glücklich sind auch wir von Pro Infirmis. Denn ohne engagierte Spenderinnen und Spender wären wir nicht in der Lage, für Familien wie jene von Runa da zu sein. Danke von Herzen auch von uns.
«Das Leben mit Runa ist eine grosse Chance, eine Art Lebensschule.»