Ende September lud Pro Infirmis Zürich in Zürich Affoltern zu einer Podiumsdiskussion zum Thema «Integrative Schule – Vielfalt als Chance».
Podiumsdiskussion «Integrative Schule»
Nach 2018 und 2019 fand zum dritten Mal eine durch Pro Infirmis organisierte Podiumsdiskussion zum Thema «Integrative Schule – Vielfalt als Chance» statt. Das Schulgesetz im Kanton Zürich, das Behindertengleichstellungsgesetz, die UNO BRK sowie die Salamanca Erklärung (UNESCO) fordern, dass Kinder mit Behinderung soweit möglich in der Volksschule geschult werden. Pro Infirmis setzt sich ebenfalls grundsätzlich für die integrative/inklusive Schulung ein, respektiert aber, dass Betroffene teilweise die Sonderschulung vorziehen. Umfragen Ende 2022 im Kanton Zürich haben ergeben, dass eine Mehrheit der Befragten die Rückkehr zu Kleinklassen befürwortet.
Dies hat Pro Infirmis veranlasst, erneut eine Podiumsdiskussion zur integrativen Schule zu organisieren. Ziel der Veranstaltung war es, mit Betroffenen und Fachpersonen die aktuelle Debatte aufzugreifen. Die Podiumsteilnehmer*innen waren Prof. Dr. Elisabeth Moser Opitz (Professorin für Sonderpädagogik Bildung und Integration), Rafael Summerauer (Co-Schulleiter Schule Schauenberg), die blinde Agrarwissenschaftlerin Laila Grillo und Doris Zappini Abdallah (Mutter von Mehdi Zappini, ein Schüler mit Trisomie 21 mit Regel- sowie Sonderschulerfahrung).
Beatrice Schwaiger, Leiterin der Kantonalen Geschäftsstelle der Pro Infirmis im Kanton Zürich, betonte in der Begrüssung der Anwesenden, dass Pro Infirmis das Problem der knappen Ressourcen in den Schulen anerkennt. «Wir bedauern jedoch, dass die Lösung dieser herausfordernden Situation oft in der Separation gesehen wird. Uns ist es ein sozialpolitisches Anliegen, dass wir uns auf eine inklusive Gesellschaft hin entwickeln. Jedes Kind soll eine gute Förderung erhalten, unabhängig ob integrativ oder separativ. Ziel ist, dass Menschen mit einer Behinderung integriert aufwachsen können, Nachteilsausgleich erhalten und als Teil der Gesellschaft gleichberechtigt leben können. Integrative Schule führt dazu, dass sich die Mitschüler*innen an Kinder mit Behinderung gewöhnen und fördert die Selbstbestimmung im späteren Leben. Bei der Sozialisation bieten gemischte Klassen eine einmalige Chance an Lernfeldern für alle Beteiligten» so Beatrice Schwaiger.
In seinem Grusswort ging Philippe Dietiker als Vertreter des Volksschulamtes der Bildungsdirektion auf die verschiedenen Herausforderungen der Thematik ein: «Mehr als die Hälfte aller Sonderschülerinnen und -schüler sind im Kanton Zürich in Regelklassen integriert. Die Lehrpersonen der Regelschule haben mit fachlicher Beratung und Unterstützung der Sonderschulen in den letzten Jahren eine enorme Integrationsleistung vollbracht. Der Kanton Zürich pflegt auch im Schulbereich eine hohe Gemeindeautonomie. Dies ermöglicht zwar passende Lösungen vor Ort, aber es bedeutet auch, dass verschiedene Integrationsmöglichkeiten noch nicht überall umgesetzt werden. Ich erlebe auch die Ohnmacht von Eltern, wenn die Integration ihres Kindes von den Haltungen der Behörden, Schulleitungen und Lehrpersonen vor Ort abhängt und diese nicht mit ihren übereinstimmt. Gemeinsam müssen wir deshalb immer wieder aushandeln, was wir unter einem integrativen Schulsystem verstehen.»
Stimmen zum «Besonderen Bildungsbedarf»
Die anschliessende Podiums-Diskussion wurde von Marah Rikli moderiert. Sie ist Journalistin, Moderatorin sowie Mutter von zwei Kindern. Über ihre Erfahrungen als Mutter einer Tochter mit einer Entwicklungsstörung schreibt sie regelmässig und bricht dabei oft mit Tabu-Themen.
Das Thema «Besonderer Bildungsbedarf» wurde im Podiumsgespräch von verschiedenen Seiten beleuchtet. Dazu schilderte Rafael Summerauer seine Erfahrungen als Co-Schulleiter der Tagesschule Schauenberg: «Wir stellen immer wieder fest, dass ein solcher Status eine Art «Stempel» ist, welcher zu Stigmatisierungen führen kann». Dazu gehöre, den Eltern aufzuzeigen, dass ein solcher Status auch eine Chance sein kann. Er löse ein Anrecht auf Förderungsmassnahmen aus und unterstütze die Schulen hinsichtlich der Förderung mit Ressourcen. Diese Gespräche hin zu einer Akzeptanz der Eltern, dass ihr Kind besonderen Bildungsbedarf hat, erlebe er oft als eine grosse Herausforderung, so Summerauer. Viele Eltern fürchten sich davor, dass ihr Kind beispielsweise wegen einer ADHS-Diagnose an einer normalen schulischen Karriere gehindert werden könnte.
Prof. Dr. Elisabeth Moser Opitz ergänzte: «Es gibt Forschungs-Ergebnisse zum Thema, wie Eltern damit umgehen, wenn sie erfahren, dass ihr Kind eine Behinderung hat. Doch jede Situation ist individuell, jede Familien-Konstellation anders – man kann hier kaum etwas verallgemeinern.» Es sei immer schwierig, wenn ein Kind eine Diagnose erhalte. «Einerseits ist dies oft ein notwendiger Schritt, damit diese Kinder die benötigte besondere Unterstützung erhalten – andererseits sind die Befürchtungen der Eltern im Zusammenhang mit einer «Etikettierung» nachvollziehbar.» Hier seien die Schulen in der Kommunikation mit den Beteiligten sehr gefordert.
Nachteilsausgleich in der Regelschule
Laila Grillo ist blind und Agronomin mit einem Masterabschluss in Wertschöpfungsketten und ländlicher Entwicklung. Sie berichtete davon, mit welchen Massnahmen sie beim Besuch der Regelschule unterstützt wurde, beispielsweise mit einer Assistenz-Person, welche ihr in Prüfungs-Situationen die Aufgaben vorlas oder Brailleschrift-Aufgaben, zum Beispiel Mathematik, korrigierte. Diese Assistenzperson war entweder eine Beratungs- und Unterstützungsperson oder später im Studium auch eine studentische Hilfskraft, beispielsweise für Datenbankrecherchen. «Das Thema «Nachteilsausgleich» war bis in die Wirtschafts-Mittelschule oft ein Reiz-Thema für meine Klassenkameraden. Immer wieder erläuterten Lehrpersonen und ich selbst der Klasse, weshalb ich beispielsweise mehr Zeit für Prüfungen erhielt – und trotzdem kam immer wieder der Vorwurf, ich sei nur darum so gut, weil ich mehr Zeit zur Verfügung gehabt hätte». Diese Situation habe oft auch zu Konflikten geführt.
Konflikte erlebte auch Doris Zappini Abdallah, als ihr Sohn Mehdi die Oberstufe in der Regelschule begann. «Nach guten Erfahrungen in der Unter- und Mittelstufe verweigerte die Lehrperson in der Oberstufe die Zusammenarbeit mit Heilpädagog*innen und Assistenzpersonen, an der Problematik wurde nicht gearbeitet. Wir als Eltern fanden kaum Gehör. Nach 1.5 Jahren mussten wir die Integration abbrechen, weil es Mehdi so schlecht ging». Doris Zappini Abdallah vertritt die Meinung, dass alle Kinder die Möglichkeit haben sollten, die Regelschule zu besuchen: «Ich persönlich finde, das Kriterium dafür dürfte nur sein, wie es dem Kind dabei geht – und nicht, welche kognitiven oder körperlichen Einschränkungen es hat».
Soziale Akzeptanz der integrativen Schule
Ein weiteres Schwerpunkt-Thema in der Diskussion und auch beim Referat von Prof. Dr. Elisabeth Moser Opitz war die Thematik «Soziale Akzeptanz». Moser Opitz: «Schüler*innen mit besonderem Bildungsbedarf sind im Durchschnitt schlechter akzeptiert als ihre Peers, aber trotzdem sind viele dieser Kinder von den Mitschüler*innen akzeptiert. Spannend ist, dass sich Aspekte der sozialen Akzeptanz im Verlauf der Entwicklung zu verändern scheinen: Junge Erwachsene, die integrativ geschult wurden, haben im Erwachsenenalter grössere soziale Netzwerke als vergleichbare Personen, die eine Sonderklasse besuchten.» Laila Grillo berichtete beispielsweise von einer Freundschaft, welche in der Regelschule in der Sekundarstufe entstand und bis heute hielt. Und Doris Zappini Abdallah erläuterte aus der Mutter-Perspektive, dass der ganze soziale Teil zwar viel Organisation und Absprache mit anderen Eltern benötigte. Mit dieser Unterstützung hat es jedoch bis Ende Mittelstufe gut funktioniert, dass die Kinder sich allein trafen. Die Freizeit wurde mit Sport wie Special Olympics und Plussport organisiert. Partizipation und Dabei-Sein-Können hatte immer einen extrem hohen Stellenwert für Mehdi und war der Motivator fürs Lernen.
Die unterschiedlichen Erfahrungen und die Diskussionen im Anschluss an das Podium zeigten eines deutlich auf: Gelungene Integration ist definitiv nicht nur eine Frage der personellen und räumlichen Ressourcen der Schulen. Es braucht einen offenen Dialog zwischen den Schulleitungen, den Lehrpersonen, den involvierten Fachstellen und den Eltern, um Lösungen zu entwickeln, die im Schulalltag umsetzbar sind, ohne dass Lehrpersonen dabei ausbrennen. Als Vision wäre es schön, wenn man das Wort «Inklusion» gar nicht mehr brauchen würde, sondern wenn diese im Schul-Alltag passiert. Dieser Abend zeigte deutlich auf: Bis dahin ist es noch ein weiter Weg.