Fallbeispiel: Henok – der Bub mit den zwei Geburtstagen
Erinnert sich Melina H. an den 21. Juli 2012 zurück, ringt sie immer noch um Fassung. An diesem Tag hatte ihr Sohn Henok (10), der damals eineinhalb Jahr alt war, einen tragischen Unfall zu Hause. 40 lange Minuten war der kleine Bub hirntot, bis ihn das Rettungsteam erfolgreich wiederbeleben konnte.
«In den ersten Wochen nach dem Unfall habe ich nur geweint. Ich war völlig ausser mir. Zum Glück war meine Familie für mich und meine damals vierjährige Tochter Fana da. Ohne sie hätte ich es nicht geschafft», blickt Melina zurück.
Für Henok sieht es nach dem Unfall auch lange so aus, als würde er es nicht schaffen. Die Hirnstrommessungen im Spital zeigen auch rund eine Woche nach dem Unfall nur noch rund 10 Prozent Hirnaktivität an: ein sehr schlechtes Zeichen, seine Überlebenschancen standen gegen null. In Absprache mit Melina beschliessen die behandelnden Ärztinnen und Ärzte nach einer Woche, die Herz-Lungen-Maschine abzustellen, an die Henok angeschlossen ist.
Der Kampf zurück ins Leben
«Wir waren alle versammelt, um von Henok Abschied zu nehmen. Dann passierte das, was mir noch heute unglaublich erscheint: Als die Beatmungsmaschine abgestellt wurde, fing Henok an, nach Luft zu schnappen», erzählt Melina. Das komme manchmal vor, erklärt ihr das medizinische Personal. Es könne ein paar Minuten dauern, bis ein Mensch nach dem Abschalten der Maschine sterbe. Doch Henok will noch nicht gehen – er atmet immer weiter. Bis heute.
Allerdings ist er in der ersten Zeit nicht bei Bewusstsein, sondern im Wachkoma. Er zeigt keinerlei körperliche Regungen. Melina weicht nicht von seiner Seite, spricht mit ihm, ist ihm nah. Nach rund zwei Monaten geschieht das, was Melina «das Wunder» nennt: Sie singt Henok ein Kinderlied vor und kitzelt ihn dabei ein bisschen. Plötzlich lacht er. «Es fühlte sich an, als ob mein Herz vor Freude zerspringt», erinnert sich Melina zurück.
Alles noch mal lernen
Die Freude bei allen ist gross, auch beim medizinischen Personal. Henok hat überlebt, atmet wieder selbstständig und hat wieder das Bewusstsein erlangt. Aber er muss wieder bei null anfangen. Innerhalb eines Jahres lernt er, seine Kopfhaltung zu kontrollieren, den Rumpf einigermassen stabil zu halten, Brei zu essen und zu trinken. Wäre Henok zum Zeitpunkt des Unfalls älter gewesen, hätte sich sein Hirn nicht so gut regeneriert: Da er jedoch erst ein Jahr alt ist, ist sein Hirn noch «flexibel» und kann neue Synapsen und Nervenstränge bilden – auch um «tote» Hirnareale herum. Leider gibt es aber auch Bereiche in seinem Hirn, die unwiederbringlich zerstört wurden: So hat er Schwierigkeiten mit der Fein- und Grobmotorik. Zudem wird er nie wieder richtig laufen können. Neben der Physiotherapie und Ergotherapie übt der Zehnjährige regelmässig mit einer von Pro Infirmis finanzierten und speziell für ihn angefertigten Steh- und Gehhilfe. Diese Art der Prävention ist sehr wichtig, um Fehlhaltungen und -stellungen zu vermeiden, die durch Henoks Spastiken hervorgerufen werden könnten. Glücklicherweise entwickelt sich Henok sonst so gut, dass er in einen regulären Kindergarten gehen kann, den Kinder mit und ohne Behinderungen gemeinsam besuchen.
Wissbegierig und interessiert
Henok besucht eine heilpädagogische Schule in Baar. Mit anderen Kindern zu lernen, zu sprechen und zu spielen, bereitet Henok grosse Freude. Wenn die Hausaufgaben gemacht sind, die er an einem speziellen Laptop mit grosser Tastatur erledigt, spielt er gern mit Lego oder Karten. «In der Schule lernen wird gerade das Alphabet, das ist bubieinfach», sagt Henok stolz. Er will mehr lernen, ist wissbegierig.
Ab nächstem Schuljahr geht Henok voraussichtlich in eine heilpädagogische Schule in Affoltern am Albis. In Kleinklassen wird dort der reguläre Volksschulstoff durchgenommen. Jedes Kind wird individuell gefördert und in seinem eigenen Tempo unterrichtet. «Henok wird in dieser Schule auch lernen, selbstständiger zu werden. Er muss mit seinem Rollstuhl z. B. allein in die Pause und wieder zurück in die Klasse fahren. Das wird ihm guttun und Selbstvertrauen schenken», erzählt Melina. Ihren Henok loszulassen, fällt der 35-Jährigen nicht immer leicht. «Ich weiss, dass es Henok in der Schule gut geht. Er wird zu Hause abgeholt und wieder heimgebracht. Aber trotzdem mache ich mir seit dem Unfall um ihn viel mehr Sorgen als um seine ältere Schwester Fana.»
Wichtige Unterstützung in knappen Jahren
Melina ist seit einigen Jahren wieder als Fachfrau Betreuung in einem Altersheim tätig: Da Henoks Betreuung viel Zeit in Anspruch nimmt, kann sie nur Teilzeit tätig sein. Entsprechend knapp war das Haushaltsbudget der Familie. Melina musste lange Zeit jeden Franken zweimal umdrehen. Da Henok einen Unfall hatte und kein Geburtsgebrechen, werden die Kosten für Behandlungsgeräte nicht von der IV übernommen und auch nur gewisse Hilfsmittel von der IV bzw. der Krankenkasse bezahlt.
«Es ist unser grosses Glück, dass wir schon früh Hilfe von Pro Infirmis erhalten haben. Ich kannte die Organisation schon wegen meines Berufs, hatte aber anfangs Mühe, nach Hilfe zu fragen. Das Sozialamt hat mir schliesslich die Pro Infirmis Sozialberaterin Frau S. von Pro Infirmis empfohlen. Und ich muss sagen: Sie ist mein Engel. Sie hat mir einen Entlastungsdienst organisiert, der mir bis 2016 immer wieder zu Verschnaufpausen verholfen hat, in denen ich Liegengebliebenes erledigen konnte. Ich kann mit jeder Frage zu ihr und sie weiss immer eine Lösung – vor allem auch, wenn es um Kostengutsprachen für Henoks Hilfsmittel und Behandlungsgeräte geht», erzählt Melina dankbar. Dass die Familie immer dann auf die Unterstützung von Pro Infirmis zählen kann, wenn es nötig ist, ist Spenderinnen und Spendern wie Ihnen zu verdanken.
Wünsche für die Zukunft
Henoks Geschichte und sein Kampf zurück ins Leben sind so unglaublich, dass man dem Jungen alles zutraut. Er wünscht sich nichts sehnlicher, als eines Tages selbstständig laufen zu können. «Ich bin überzeugt, dass er es schaffen wird. Henok hat uns allen schon so oft bewiesen, dass Dinge möglich sind, die eigentlich unmöglich sind», sagt Melina. Sie selbst hat die Hoffnung, dass Henok möglichst eigenständig leben kann. «Ich möchte, dass er im Erwachsenenalter auch ohne mich auskommt. Dass er zum Beispiel selbstständig E-Mails lesen und schreiben kann, nicht für alles Hilfe braucht. Er ist auf gutem Weg dahin…» Bis dahin nimmt die Familie alles, wie es kommt – und vor allem mit viel Humor.
«Ich wünsche mir, eines Tages laufen zu können.»