Fallbeispiel: Laetitia macht ihrem Namen alle Ehre.
Laetitia bedeutet auf Lateinisch ‘Freude’. Und das ist es, was das kleine Mädchen mit den gläsernen Knochen seinen Eltern Tag für Tag bereitet, seit es vor bald drei Jahren zur Welt gekommen ist. Dass ihr Kind die Glasknochenkrankheit hat, erfuhren Alexandra und Guillaume erst kurz vor der Geburt. Die Diagnose beeinflusste nicht nur die Namenswahl, sondern das ganze Leben der Familie.
«Die Schwangerschaft verlief ohne Komplikationen bis etwa vier Wochen vor dem errechneten Geburtstermin», erzählt Alexandra rückblickend. Sie war im Spital bei der Arbeit als sie merkte, dass die Kindsbewegungen weniger geworden respektive kaum mehr wahrnehmbar waren. «Als Frauenärztin weiss ich, was ich machen muss, damit sich das Baby bewegt. Doch unser Mädchen hat nicht darauf reagiert.» Sofort veranlasste ein Arztkollege von Alexandra einen Ultraschall. Dieser zeigte: das Kind lebte, alles schien so weit gut. Doch dann fiel den beiden Medizinern auf, dass das Ungeborene einen gebrochenen Oberschenkel hatte. Verdacht: Glasknochenkrankheit. Umgehend wurden weitere Tests veranlasst. Eine Punktion des Fruchtwassers brachte schliesslich Gewissheit.
«Für uns war es im ersten Moment ein Schock», erzählt Vater Guillaume. «Die Diagnose kam völlig unerwartet. 36 Wochen lang glaubten wir, dass wir ein gesundes Baby bekämen, und dann das…?» Doch Alexandra und Guillaume liessen sich nicht entmutigen. Die beiden Akademiker machten sich hinter die Bücher. Sie wollten alles über die Krankheit erfahren, was es zu erfahren gab. «Rund 70 Prozent der Menschen, welche die Glasknochenkrankheit haben, können ein mehr oder weniger normales Leben führen», so Alexandra. «Dieses Wissen gab uns Zuversicht. Auch die Tatsache, dass wir beim Ultraschall nur einen gebrochenen Knochen sehen konnte, stimmte uns positiv.» Diese Positivität wollten sie ihrer Tochter mit auf den Lebensweg geben. «Eigentlich hatten wir schon einen Namen für unsere Tochter ausgewählt. Doch diese Krankheit veränderte alles. Deshalb suchten wir einen anderen Namen. Einen, der genau für dieses, für unser kleines Mädchen ist. Laetitia, die Freude», erzählt Papa Guillaume.
Um weitere Brüche möglichst zu verhindern und der ungeborenen Laetitia Schmerzen zu ersparen, entschieden sich die Eltern für einen Kaiserschnitt.
Dann folgte der zweite Schock. Die Röntgenbilder, die gleich nach der Geburt von Laetitias kleinem Körper gemacht wurden, zeigten, dass nicht nur dieser eine Oberschenkelknochen gebrochen war. «Die Ärzte zählten insgesamt zwanzig Knochenbrüche», erinnert sich Alexandra und kämpft mit den Tränen. Nebst dem Gedanken an die Schmerzen, die ihre kleine Tochter gehabt haben muss, lässt das Röntgenbild Schlüsse auf den Schweregrad der Erkrankung zu. Und Laetitia hat es viel schwerer getroffen als es die vorgeburtliche Untersuchung erahnen liess.
Start mit Schwierigkeiten
Die erste Zeit sei schrecklich gewesen, sind sich die Eltern einig. Denn Laetitias Knochen brachen bei jeder noch so kleinen Bewegung, manchmal praktisch ohne Grund. «Es hat zum Beispiel nur schon gereicht, wenn sich Laetitia in ihrem Bettchen gestreckt hat», so Guillaume. «Plötzlich hat man es knacken gehört. Und dann hat Laetitia zu schreien angefangen». Alexandra fährt fort: «Oder einmal hat es in der Nacht gewittert und Laetitia ist erschrocken. Allein das Zusammenzucken hat zu einem Knochenbruch geführt. Während dieser Zeit waren wir bestimmt alle zwei Wochen im Krankenhaus, um ihre Brüche schienen zu lassen.»
Die vielen Brüche sind das eine, die damit verbundenen Schmerzen das andere. Ohne eine entsprechende Medikation unvorstellbar. «Das medizinische Wissen, das ich als Ärztin habe, ist natürlich eine grosse Hilfe. Ich kenne mich mit der Schmerzmittelabgabe aus und weiss, wann und wieviel ich Laetitia geben darf, um ihre Beschwerden zu lindern», so Alexandra. «Doch das eigene Kind so leiden zu sehen, ist unvorstellbar.»
Zum Glück scheinen die akuten Phasen fürs Erste vorbei zu sein. Laetitias letzter Bruch liegt anderthalb Monate zurück. Es scheint, als zeige die Therapie Wirkung. Seit einiger Zeit nämlich bekommt Laetitia alle drei Monate Medikamente über eine Infusion verabreicht, welche ihre Knochen stärken und eine höhere Knochendichte bewirken sollen. Zudem wurden ihr Teleskopnägel in die längeren Knochen wie Oberschenkel oder Arme eingesetzt. Diese Nägel stabilisieren die Knochen von innen und sorgen dafür, dass Brüche möglichst gerade zusammenwachsen. Der Vorteil dieser teleskopischen Nägel ist zudem, dass sie ein Gewinde haben und mitwachsen. So können Laetitia viele schmerzhafte Operationen erspart werden und sie kann sich mit weniger Einschränkungen bewegen.
Gratwanderung «Alltag»
Wie ein Wirbelwind saust Laetitia mittlerweile auf dem Hosenboden robbend in der Wohnung umher. Seit ihrer Geburt sind bald drei Jahre vergangen. Aus dem Baby ist ein starkes Persönchen geworden, das weiss, was es will. Ihren Willen bringt Laetitia mittlerweile sogar dreisprachig zum Ausdruck - Mundart, Hochdeutsch und Französisch. «Laetitia ist im Kopf sehr präsent», erzählt Papa Guillaume, ein gebürtiger Genfer, stolz. «Wir haben das Gefühl, dass sie ihre motorischen Einschränkungen mit ihren kognitiven und musischen Fähigkeiten kompensiert.» Förderung ist den Eltern deshalb wichtig. Jede Woche besucht Alexandra mit ihrer Tochter einen Musikkurs. «Für Laetitia ist es das wöchentliche Highlight. Sie kann es jeweils kaum erwarten, bis wieder Mittwoch ist.» Musik hat Laetitia während ihres erst kurzen Lebens immer begleitet. Denn Alexandra und Guillaume haben stets für ihre Tochter gesungen und sie damit auch während den schlimmsten Schmerzen getröstet.
Noch wichtiger als Förderung ist den Eltern aber, dass ihre Tochter so «normal» wie möglich aufwachsen darf. «Es ist eine konstante Gratwanderung für uns. Einerseits müssen oder wollen wir Laetitia so gut wie möglich davor schützen, sich wehzutun. Gleichzeitig möchten wir sie aber ihre eigenen Erfahrungen sammeln lassen und ihr ermöglichen, ihre Kindheit zu leben,» erzählt Alexandra. «Es ist ein ständiges Abwägen von Risiken», ergänzt Guillaume. «Und Alexandra und ich sind uns nicht immer einig.» Spielen mit Gleichaltrigen ist so ein Thema. Eigentlich wäre der soziale Kontakt zu anderen Kindern für die Entwicklung von Laetitia sehr wichtig. Doch es reicht schon, wenn ein anderes Kleinkind ihr ein Spielzeug aus der Hand reisst oder ihr auf die Hand schlägt, um ihre einen Knochen zu brechen. Und einem Kleinkind, das selbst noch nicht sprechen kann, zu erklären, wie es sich Laetitia gegenüber zu verhalten hat, ist einfach zu schwierig. Zumindest noch auf dieser Altersstufe. Dies ist mitunter einer der Hauptgründe, weshalb Laetitia weder in eine Spielgruppe noch in die Kita gehen kann.
Entlastung dank Pro Infirmis
Damit die beiden berufstätigen Eltern dennoch – zumindest in Teilzeit – ihrer Arbeit nachgehen können, kommt zweimal die Woche jemand vom Entlastungsdient der Pro Infirmis vorbei, wofür Alexandra und Guillaume sehr dankbar sind. «Unsere Familien leben im Welschland. Ohne die Unterstützung von Pro Infirmis wäre das alles so nicht machbar für uns. Die beiden Frauen sind ein Segen und erlauben uns, ein Stück weit ein «normales» Leben zu führen», ist Alexandra dankbar. Und auch Guillaume ist mit der Situation sehr zufrieden. Er hat einen grosszügigen Arbeitgeber, der ihm erlaubt, an den zwei Tagen, an denen der Entlastungsdienst kommt, im Homeoffice zu arbeiten. «Laetitia wickeln zum Beispiel möchten wir selbst. Nicht, weil es andere nicht können. Aber wir wollen einfach nicht, dass sich jemand anderes ‘schuldig’ fühlt, wenn er oder sie Laetitia etwas bricht. Das ist schon für uns als Eltern schwierig genug», so Guillaume.
Und weniger schwierig wird es auch in nächster Zeit nicht für die Familie. Denn bald sind sie zu viert. Zudem warten auf Laetitia mehrere chirurgische Eingriffe. So sollen ihre beiden Unterschenkel sowie ein Arm begradigt und mit teleskopischen Nägeln verstärkt werden. Ziel der Operationen ist es, Laetitia noch mehr Selbständigkeit zu schenken und – mit etwas Glück – ihr das Stehen und vielleicht sogar das Gehen zu ermöglichen. «Wir nehmen es wie es kommt. Und lassen uns überraschen», so Alexandra. Schliesslich wäre es nicht das erste Mal, dass das kleine Mädchen über sich selbst hinauswächst. Denn erst gerade kürzlich hat ihre Mutter sie dabei beobachtet, wie sie sich selbst aufgerichtet und in den Stand hochgezogen hat – entgegen allen Prognosen. Das Wichtigste aber für alle ist, dass Laetitia – wie es ihr Name sagt – ein fröhliches und aufgestelltes Kind ist. Und das ist sie in der Tat.
«Laetitia kam mit zwanzig Knochenbrüchen auf die Welt.»