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Fallbeispiel: Sayra: Ein Mädchen sammelt Meilensteine

28 Wochen im Bauch sind genug – das dachte sich wohl Sayra, als sie 2019 viel zu früh zur Welt kam. Für die Eltern ein Schock. Die Frühgeburt hat bei Sayra zu zahlreichen Behinderungen geführt. Diese hindern sie aber nicht daran, ein aufgewecktes und fröhliches Mädchen zu sein.

Sayra jauchzt vor Begeisterung, als sie mit beiden Händen die Seifenblasen zerplatzt, die Mama Rusmira F. ins Wohnzimmer pustet. Selbst «Bläterli» zu machen, klappt zwar noch nicht, sie zu jagen dafür umso besser. Und auch diejenigen, die weiter wegfliegen, sind vor der 5-Jährigen mit der markanten rosa Brille nicht sicher. Sayra hat ihre ganz eigene Fortbewegungsmethode entwickelt. So stösst sie sich mit beiden Händen vom Boden ab und gleitet pfeilschnell auf dem Hosenboden von A nach B. «Sie hat unglaublich viel Energie», lacht Rusmira F. und muss sich beeilen, neue Bläschen zu zaubern.  

So unbeschwert wie heute war Sayras Leben nicht immer. Ihre ersten Wochen und Monate verbrachte das extreme Frühchen im Spital. Mehr als einmal hing das Leben des Mädchens am seidenen Faden. So erlebte Sayra als Neugeborenes gleich mehrere Hirnblutungen. Zudem wurde bei ihr eine Cerebralparese sowie Epilepsie diagnostiziert. Niemand konnte sagen, ob und wie sich Sayra entwickeln würde. Ihre Zukunftsaussichten waren ungewiss. Doch aufgeben war und ist für das Mädchen keine Option, genauso wenig wie für ihre Eltern, die alles für ihren Sonnenschein tun. «Sayra kommt für uns an erster Stelle», sagt Rusmira F. und ihr Mann nickt bestätigend. 

Der Fels in der Brandung 

Vor ungefähr zwei Jahren durften wir die Familie schon einmal besuchen. Es ist erstaunlich, welche Fortschritte Sayra seither gemacht hat – und immer noch macht. Damals konnte sie weder sprechen noch laufen und auch essen war schwierig. Das sieht heute ganz anders aus.  

Sayras Eltern sind sich sicher, dass diese positive Entwicklung ohne die nötige fachliche Unterstützung und Förderung ihrer Tochter wahrscheinlich nicht möglich gewesen wäre. Und auch nicht ohne Frau L. Die Sozialarbeiterin von Pro Infirmis begleitet Familie F. praktisch seit Anfang an. Sie steht den Eltern beim Ausfüllen von Formularen zur Seite, weist proaktiv auf neue Verordnungen und Möglichkeiten hin und begleitet Gesuche bei der IV. Frau L. ist der Fels in der Brandung, wenn sich die Hindernisse türmen, und setzt sich mit ganzem Herzen für Sayra und ihre Familie ein. Für Rusmira und Nihad F. keine Selbstverständlichkeit. 

Dank der Sozialberatung von Pro Infirmis konnte Familie F. unter anderem den dringend benötigten, aber teuren Reha-Buggy, einen Therapiestuhl sowie weitere Hilfsmittel anschaffen, die für Sayras Entwicklung essenziell sind. Ohne administrative und vor allem auch finanzielle Hilfe für die Familie unmöglich. Dafür sind die jungen Eltern sehr dankbar.  

Trotz aller Unterstützung aber bleibt die 24-Stunden-Betreuung von Sayra für das Ehepaar eine riesige Herausforderung. Vater Nihad F. arbeitet im kräftezehrenden Schichtdienst, Grosseltern und Verwandte leben weit weg und können nicht eben mal kurz einspringen. Aktuell wird darum geprüft, ob Sayra Anrecht auf persönliche Assistenz hat, da sie rund um die Uhr auf Betreuung angewiesen ist. Denn auch die engagiertesten und liebevollsten Eltern benötigen ab und zu eine Pause. 

Auf gutem Weg 

Sayra selbst lässt sich indessen durch ihre Behinderungen nicht aufhalten und geht selbstbewusst ihren Weg – im wahrsten Sinne des Wortes. Mehrmals pro Woche trainiert sie auf dem sogenannten «Lokomat» das Gehen. Dabei läuft sie mit Stützen und einem speziellen Korsett auf einem Laufband und stärkt so ihren ganzen Körper. Die Erfolge sieht man bereits deutlich: Das Mädchen steht schon viel stabiler als bei unserem letzten Besuch. Ein weiterer Meilenstein. Ziel ist es natürlich, dass sie irgendwann selbstständig laufen kann. Bei Sayras Willen und der nötigen Unterstützung kein unmögliches Ziel. 

Auch beim Sprechen macht sie Fortschritte. Die wichtigsten Worte kommen schon ganz nebenbei über die Lippen und verstehen tut Sayra sowieso alles. Auch wenn sie das «Keine Schoggi mehr für dich» wohl lieber überhört hätte. Ihr Vater sagt: «Wir sprechen mit ihr nicht anders als andere Eltern mit ihren Kindern,» und die Mutter ergänzt: «Für uns ist Sayra gesund, wir machen keinen Unterschied.». 

Selbstbewusst am Leben teilnehmen 

Auch Sayra scheint keinen Unterschied zwischen sich und anderen Kindern zu machen. Beim Spielen fordert sie beispielsweise trotz eingeschränkter Motorik vehement den Ball ein - genau wie alle anderen Kinder. Und das mit einem unwiderstehlichen Charme. Wer einmal erlebt hat, wie unbefangen und herzlich das Mädchen auf andere zugeht, weiss, warum sie in der ganzen Nachbarschaft so beliebt ist. Stolz erzählt die Mutter, dass Sayra ständig zu Geburtstagspartys eingeladen wird und häufig Besuch erhält. Das zeigt, dass ihr Schatz vollständig akzeptiert ist. Für die Eltern ein riesiges Geschenk. 

Der nächste Meilenstein 

Seit kurzem besucht Sayra den Kindergarten im Zentrum für Kinder mit Sinnes- und Körperbeeinträchtigung in Trimbach. Jeweils ein paar Stunden pro Tag verbringt Sayra dort und wird mit Logopädie, Ergo- und Physiotherapie individuell gefördert und gefordert. 

Der neue Lebensabschnitt war auch für Rusmira und Nihad F.  ein wichtiger Meilenstein. Für sie bedeutet die Einrichtung Entlastung und die Möglichkeit, sich auch einmal Zeit füreinander oder sich selbst zu nehmen. Bedenken, ihr kleines Mädchen in die Fremdbetreuung zu geben, hatten die Beiden nicht: «Die Atmosphäre im Kindergarten ist auch um 17.00 Uhr noch super, das ist ein gutes Zeichen», ist sich Rusmira F. sicher.  

Als sich unser Besuch dem Ende zuneigt, entdeckt Sayra erneut die Seifenblasen. Und nach ein paar ungewollten Berührungen an den Lippen klappt es dann doch: Sayra lässt ganz alleine Seifenblasen steigen. 

Sayra Dorf mit ihren Eltern

«Sayra kommt für uns an erster Stelle.»

Mama Rusmira F.

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