Fallbeispiel: «Solange Fiona glücklich ist, sind wir es auch.»
«Komm, komm!», ruft uns Fiona (6) bestimmt zu und lässt nicht locker, bis wir uns zu ihr setzen. Stolz zeigt sie erst ihr Puppenhaus, dann ihre Kuscheltiere und Bilderbücher. Mit ihrem herzigen Lächeln, ihren aufgeweckten Augen und ihrem Charme wickelt sie alle sofort um den Finger.
Fiona sieht man nicht auf den ersten Blick an, dass sie mit einer cerebralen Bewegungsstörung und einer generellen Entwicklungsverzögerung zur Welt kam. Und auch für die Eltern Nicole (44) und Erich (47) wird erst nach und nach klar, dass ihr kleiner Sonnenschein etwas ganz Besonderes ist.
Für das Paar ist Fiona das langersehnte Wunschkind und die Schwangerschaft verlief nach Nicoles Worten «wunderbar». In der 27. Schwangerschaftswoche hat Nicole eine Routineuntersuchung. Auf der Arbeit verabschiedet sie sich mit «Bis morgen!». Aus dem Morgen sollte ein Abschied für immer werden. Denn Nicoles Gebärmutterhals ist schon sehr verkürzt – ein deutliches Zeichen, dass die Geburt ansteht. Doch es ist noch viel zu früh dafür. Nicole wird strenge Bettruhe verordnet, die sie sehr ernst nimmt. Drei Wochen später setzen trotzdem Wehen ein. Nicole und Erich fahren ins Spital in Muri AG: Nicole erhält Wehenhemmer und ihr wird Blut abgenommen. Die Auswertung zeigt eine Infektion an, die später auch im Mutterkuchen nachweisbar ist. Weil die Geburt des Frühchens Fiona kurz bevorsteht, sucht das Spital händeringend nach einem Platz auf einer Neugeborenenstation: In Luzern werden sie glücklicherweise fündig.
Winzling mit grossem Überlebenswillen
Im Spital angekommen, wird Fiona zehn Wochen zu früh per Notkaiserschnitt auf die Welt geholt – sie wiegt gerade mal 1,5 kg. Weil das Baby die Infektion über Nicoles Fruchtwasser aufgenommen hat, muss es eine Woche auf die Neugeborenen-Intensivstation und eine Antibiotikakur machen. «Ich habe bei der Geburt viel Blut verloren und konnte Fiona darum nicht besuchen. Obwohl sie gerade mal ein Haus weiter war. Das war das Schlimmste für mich», erinnert sich Nicole traurig. Papa Erich springt ein und ist jeden Tag bei seiner Tochter. «Es war sehr eng auf der Neugeborenenstation. Bett an Bett, nur mit einem Vorhang von den Nachbarn getrennt. Trotzdem habe ich jede Sekunde genossen, in der ich Fiona nah sein konnte. Oft durfte ich sie auf meine Brust legen und dort hat sie einfach geschlafen. Die Nähe ist sehr wichtig für das Neugeborene», erzählt er. Fiona erholt sich glücklicherweise von der Infektion und atmet von Beginn an gut selbstständig.
Die wichtigste Person fehlt daheim
Nicole darf nach einer Woche das Spital verlassen – nur leider ohne Fiona. «Es fühlte sich falsch an, nach Hause zu dürfen, aber das Baby war noch nicht da. Überhaupt, die Schwangerschaft ging so schnell zu Ende: Wir hatten noch kein Babybett, keine Babykleider … Und auch für mich mental ging alles zu schnell.»
Das Paar kümmert sich täglich im Spital um Fiona. Zwei Wochen vor Weihnachten ist es endlich so weit: Fiona darf das Spital verlassen. «Für uns war es das schönste Weihnachtsgeschenk», erzählen Nicole und Erich. Endlich können die drei ihr Glück geniessen. Fiona legt an Gewicht zu und entwickelt sich gut.
Fiona hat ihr eigenes Tempo
Nach rund einem Jahr bemerken Nicole und Erich, dass Fiona in vielen Dingen noch nicht so weit ist wie gleichaltrige Babys. Auch verkrampfen sich ihre Hände und Füsse immer wieder. Bei der Jahreskontrolle stellt sich heraus, dass Fiona eine cerebrale Bewegungsstörung hat, die vermutlich von einem Gendefekt herrührt. Jedoch haben die genetischen Abklärungen bis heute keine konkrete Diagnose ergeben. Sie hat motorische Einschränkungen, ist weitsichtig und entwickelt sich verzögert. Fiona erhält ab diesem Zeitpunkt Physiotherapie. Später kommen einmal pro Woche Ergotherapie und Frühförderung dazu. Sie besucht mit den anderen Kindern die Spielgruppe im Dorf sowie die Kindertagesstätte im Nachbardorf: «Kinder sind so unvoreingenommen und offen, es interessiert sie nicht, wenn eines von ihnen etwas anders ist. Und sie sind sehr hilfsbereit. Davon könnte sich manch ein Erwachsener eine Scheibe abschneiden», sagt Nicole. Weil es Fiona in der Kita so gut gefällt und sie für ihre Entwicklung mehr Zeit braucht, lassen sie ihre Eltern ein Jahr zurückstellen für den Kindergarten.
Wertvolle Orientierung für die Eltern
Ungefähr zu dieser Zeit beginnt vor allem Nicole zu zweifeln. «Sind wir auf dem richtigen Weg mit Fiona? Machen wir alles richtig? Ich war orientierungslos, wusste nicht mehr weiter, Denn wir kennen niemanden, der ein Kind wie Fiona hat.» Sie sucht im Internet nach Unterstützungsangeboten und findet Pro Infirmis. Sie vereinbart einen Termin mit der Sozialberaterin Béatrice U. In einem langen, ausführlichen Gespräch erhält Nicole wichtige Orientierung, Tipps – z. B. für den Antrag auf Hilflosenentschädigung für Fiona – und vor allem Sicherheit. Das Paar weiss jetzt, dass es vollkommen in Ordnung ist, wenn Fiona einen anderen Weg geht als andere Kinder. Und dass sie jederzeit wieder auf die Unterstützung von Pro Infirmis zählen können. «Wir haben uns sehr dafür eingesetzt, dass Fiona eine heilpädagogische Schule besuchen kann, die zwar etwas weiter entfernt ist, aber sämtliche nötige Therapien für Fiona anbietet, so dass sie optimale Unterstützung erhält. Keine Selbstverständlichkeit für ein Kind ohne Diagnose. Wir hatten grosses Glückk, dass es dank der Unterstützung unserer Ärztinnen und Ärzte sowie der verantwortlichen Behörden trotzdem geklappt hat.»
Und die Hauptfigur in dieser Geschichte? Fiona ist ein glückliches Kind, sie macht im «Fiona-Tempo» Fortschritte, ist immer gut gelaunt und erobert schnell die Herzen anderer Menschen. «Fiona hat so eine einnehmende Persönlichkeit – sie berührt andere mit ihrem Wesen.» Mama Nicole fasst es so zusammen: «Fiona hat besonders mich viel gelehrt: einerseits meine eigenen hohen Ansprüche an mich und an mein Umfeld zurückzuschrauben und geduldiger zu sein. Andererseits jeden Schritt zu würdigen, auch wenn er noch so klein ist. An und mit Fiona sehe ich jeden Tag, dass man nicht perfekt sein muss, um perfekt zu sein.»
«Kinder sind so unvoreingenommen und offen, es interessiert sie nicht, wenn eines von ihnen etwas anders ist. Und sie sind sehr hilfsbereit. Davon könnte sich manch ein Erwachsener eine Scheibe abschneiden»