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Folge 3: Selbstbestimmung und Respekt Folge 5: Fragen und Antworten

Podcast Folge 4: Liebe und Familie

Janine möchte nach ihrer Hochzeit eine Familie gründen. Sie macht sich viele Gedanken dazu, wie das Leben mit Kindern aussehen könnte und tauscht sich mit der Wohnbegleiterin Andrea dazu aus. Die beiden haben nicht immer die gleichen Ansichten, was Familienbilder betrifft – doch die Meinungsverschiedenheiten werden immer respektvoll ausdiskutiert.

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Transkript: Die ganze Folge 4 zum Nachlesen

[Andrea] Da ist Andrea vom Begleiteten Wohnen. Ich gehe auf Besuch bei Frau Zobrist, mal schauen, ob sie da ist. Ich nehme schon an, sie ist ja so zuverlässig.

[Türklingel läutet und Türöffner brummt]

[Andrea] Hallo Frau Zobrist

[Janine] Grüezi

[Andrea] Grüezi Grüezi

[Weibliche Stimme] Manchmal braucht es im Leben Unterstützung, wenn man nicht alles ganz alleine meistern kann. Weil Unterstützung ermöglicht Eigenständigkeit. 

[Janine] Mir ist es wichtig, dass ich weiss, wenn mein Schatz und ich mal Kinder möchten, dass Hilfe zur Verfügung steht. 

Das ist Janine. Sie ist 29 und hat eine kognitive Beeinträchtigung. Sie hat eine Lernschwäche. Sie ist eine von rund 1,7 Millionen Menschen in der Schweiz mit einer Beeinträchtigung. Dank dem Begleiteten Wohnen von Pro Infirmis kann sie alleine in ihrer 2 1/2 Zimmer-Wohnung leben. 

[Andrea] Wir sehen nicht alles gleich und müssen nicht alles gleich sehen, das macht es auch spannend.

Das ist Andrea. Sie ist die Wohnbegleiterin. Die Sozialpädagogin trifft sich einmal pro Woche mit Janine. In diesem Podcast begleiten wir die zwei Frauen ein Stück auf ihrem Weg. Meine Wohnung, mein Leben: der Podcast zum Begleiteten Wohnen von Pro Infirmis.

[Cheyenne] Und ich bin Cheyenne. Ich mache zusammen mit Janine und Andrea diesen Podcast. Wenn du hier direkt eingestiegen bist, hör dir doch die Folgen eins bis drei, damit du die beiden Frauen kennenlernst. Das ist die Folge 4: "Liebe und Familie". Zwei ganz grosse Themen in Janines Leben. Sie plant ja gerade ihre Hochzeit. Da gibt es zwar ein paar Stolpersteine zu überwinden, aber auch ein paar Sachen zu organisieren, die Freude machen.

[Janine] Von meiner Arbeitskollegin habe ich Schuhe bekommen mit Söcklein, die man anziehen kann, damit ich keine Blasen bekommen. Ich muss die Schuhe zuerst noch einlaufen.

[Andrea] Ah, Sie sprechen von ihren Hochzeitsschuhen. Die haben sie von dieser Frau bekommen, die Ihnen auch angeboten hat, Ihre Haare zu machen. Aber jetzt... sehr schön! Was haben sie für eine Farbe?

[Janine] Sie sind in der gleichen Farbe wie mein Hochzeitskleid. 

[Andrea] Oh, schön.

[Cheyenne] Die Hochzeitsschuhe sind also organisiert, die Hochzeit ist im Frühling 2022. Und eigentlich würde dann danach eine Hochzeitsreise anstehen. Die verschieben Janine und ihr Schatz um ein Jahr. Auch Janines Partner nimmt die Dienstleistung Begleitetes Wohnen von Pro Infirmis in Anspruch und bevor sie reisen gehen, möchten die beiden eigentlich zusammenziehen.

[Andrea] Da haben wir auch schon darüber geredet, dass es nicht sinnvoll ist, alles miteinander zu machen. Eine Hochzeit ist sonst schon genug... es ist etwas sehr Schönes, aber es ist irgendwo trotzdem ein Stress... weil es viel zu tun gibt.

[Janine] Aber es kann schon sein, dass es für den einen zu viel wird. 

[Andrea] Eben, das finde ich auch, wenn dann noch das Zügeln dazu kommt... 

[Janine] Mein Schatz kann die Wohnung erst kündigen, wenn er einen Nachmieter hat. Natürlich sind wir jetzt auch dort voll dran, am Wohnungen suchen. Leider habe ich noch gar nichts gefunden. Am 10. Januar müssen mein Schatz und ich aufs Standesamt, dort müssen wir unterschreiben und es müssen zwei Personen dabei sein, die das bezeugen müssen...

[Andrea] Das sind dann schon die Trauzeugen, nehme ich an... 

[Janine] Genau.

[Andrea] Auch bei der Wohnungssuche gibt es Sachen, auf die Sie achten müssen. Zum einen haben Sie ja das Budget...

[Janine] Es ist 1'560.-

[Andrea] Das ist dann ja nicht markant mehr. Es verdoppelt sich ja dann nicht immer, auch in einer Partnerschaft.

[Janine] Aber eben, ich wäre schon froh, wenn es eine Badewanne und eine Waschmaschine, einen Geschirrspüler hätte. 

[Andrea] Und eben diesen Sitzplatz. Und es wäre sicher auch gut, wie jetzt, die Nähe zum öffentlichen Verkehr, das ist Ihnen ja auch wichtig, weil sie ja viel und gerne reisen miteinander. 

[Cheyenne] Janine und ihr Freund haben sich in der Wohnschule von Pro Infirmis kennengelernt. Und die beiden möchten nach der Hochzeit eine Familie gründen. Über ihren Kinderwunsch und welche Verantwortung Kinder mit sich bringen, darüber reden Janine und Andrea sehr oft. 

[Janine] Mir ist es wichtig, dass ich weiss, wenn mein Schatz und ich mal Kinder haben würden, dass Hilfe zur Verfügung steht, wenn wir sie brauchen. Von der Beiständin...

[Cheyenne] Es ist Janine bewusst, dass sie mit einer Beeinträchtigung vielleicht Unterstützung braucht beim Elternsein. Und was sie auch stark beschäftigt ist das Thema Schwangerschaftsabbruch, oder genauer gesagt: sie kritisiert die Pränataldiagnostik.

[Janine] Gestern habe ich ein erschreckendes Video geschaut. Ich kenne die Frau vom ICF und sie hat gesagt: "Wussten Sie, dass in der Schweiz 10'000 Babys abgetrieben werden", so gross wie die Zuschauer von einem Hallenstadion oder so gross wie die Turnhalle von Thun.

[Andrea] Das ist auch ein Thema, mit dem sie sich stark auseinandersetzen und sich engagieren. Der Schwangerschaftsabbruch. Jetzt sind wir wieder am gleichen Punkt. Es gibt Meinungen, die aufeinanderprallen, es kann individuell sehr unterschiedlich erlebt werden.

[Janine] Das Problem ist einfach, dass ich das Gefühl habe, wenn das so weitergeht, dann wird fast kein Kind mehr geboren, das eine Beeinträchtigung hat.

[Andrea] Gell, Sie meinen die Pränataldiagnostik, die so fest am kommen ist.

[Janine] Weil damit wird das gemacht, was man eigentlich nicht befürworten sollte, dass das stigmatisiert wird.

[Andrea] Oder dass es eine Zweiklassengesellschaft wird, weil man sagt, welches Leben ist lebenswert. Ja, das muss jedes Paar selber entscheiden, ob man das in Anspruch nehmen möchte oder nicht.

[Cheyenne] Ihr hört es. Das ist der Punkt, wo es zwischen Janine und Andrea Diskussionen gibt. Wo die beiden Haltungen austauschen und besprechen. Janine hat eine klare Meinung und Andrea, so kommt es mir vor, versucht, den Blickwinkel zu öffnen.

[Andrea] Ja, das ist ein kontroverses Thema... für das Sie sich da einsetzen.

[Janine] In der Schweiz gibt es leider auch 14, 15-Jährige, die schwanger werden können. Das Problem dort ist, dass es ihnen vorgelebt wird, durch all die Hollywoodfilme, z.B. "Sex and the City", dort geht es aber zuerst um den Sex, dann kommt das Zwischenmenschliche und am Schluss das geistliche, also eigentlich alles verkehrt. 

[Andrea] Ja, sie haben das Gefühl, dass das mit ein Grund ist, dass die Jungen die Prioritäten nicht richtig setzen und das zu ungewollten Schwangerschaften führt.

[Janine] Ja.

[Andrea] Wir haben aber gleichzeitig über das selbstbestimmte Leben gesprochen, in dem Sinn, dass die Sexualität allen Menschen soll offen stehen.

[Janine] Ja. Es kann aber ein Segen und ein Fluch sein.

[Andrea] Das sehen Sie auch so, das haben Sie mir auch schon gesagt, dass sie auch der Meinung sind, dass es ein veraltetes Gedankengut ist. Man weiss gar nicht, wie man darauf gekommen ist, dass Menschen mit einer Beeinträchtigung keine Gefühle haben, Beziehungen nicht leben möchten, oder kein Bedürfnis nach Sexualität haben. Aber auch hier ist ganz viel gelaufen.

[Janine] Ja, das ist so.

[Andrea] Wo ich die Meinung mit Ihnen nicht unbedingt teile, und das wissen Sie: Wenn jemand ungewollt schwanger wird in jungen Jahren und keine Familie hat oder selber sagt 'ich traue mir das zu', wenns mit Vergewaltigung oder Missbrauch... da sehe ich das anders, aber Sie wissen es, das haben wir schon öfter gemerkt. Wir sehen nicht alles gleich und müssen nicht alles gleich sehen. Das macht es auch spannend, dass es Diskussionen gibt.

[Cheyenne] Wenn ich den beiden zuhöre, glaube ich, herauszuspüren, worum es Janine geht. Für sie ist es wichtig, dass Menschen mit einer Beeinträchtigung Platz haben in unserer Gesellschaft. Die Diskussionen von Andrea und Janine gehen tief.

[Janine] Der Papst, der vorher war, wollte sogar die Babypille verbieten. 

[Andrea] Das geht nicht, oder...

[Janine] Nein. Er war eben konservativ und das hat zu seiner religiösen Einstellung gehört: 'Die Frau ist da um Kinder auf die Welt zu bringen', was natürlich in meinen Augen auch nicht immer so ganz richtig ist. Und beim Vater heisst es, das ist der, der das Geld verdienen geht. 

[Andrea] Das sind mittlerweile überholte Familienbilder. Das ist ja das schöne an der heutigen Zeit... da kommen wir wieder zu einem Thema, wo wir uns nicht ganz einig sind... vermutlich gleichgeschlechtliche Beziehungen, wo ich auch das Gefühl habe, das ist einfach das schöne an der heutigen Zeit, dass man das so leben darf, wie man es möchte.

[Janine] Ich verurteile es nicht. Der einzige Punkt, den ich kritisch sehe ist, erstens die Samenspende. Weil dann schafft man das klassische Vaterbild ab. Und leider Gottes sehe ich es so, dass nur die erwachsenen Kinder von denen gehört, die es gut erleben haben.

[Andrea] Ich masse mir nicht an, das zu beurteilten. Ich denke einfach, das Leben hat viele Facetten. Das merken wir immer wieder in unseren Gesprächen.

[Janine] Ja. Aber logisch, was ich nicht richtig finde ist, wenn man meint, man müsste die [Homosexuellen] von irgendwelchen Dämonen befreien. Das finde ich jetzt auch übertrieben, das würde ich jetzt auch nicht befürworten.

[Cheyenne] Die Wohnbegleitung von Andrea für Janine ist, wie man hört, viel mehr als Tipps geben für den Alltag. Da geht es auch um persönliche Ansichten und eine Gesprächskultur zu pflegen. Und das haben die beiden für diesen Podcast sogar gemacht, während das Aufnahmegerät gelaufen ist. Bevor sie das wieder abstellen, hat Janine noch ein Anliegen.

[Janine] Vielleicht wäre es gut, wenn man in Zukunft Schüler, die keine Beeinträchtigung haben, in der Schule über Beeinträchtigungen aufklärt. Denn viele wissen das ja nicht. Schlussendlich sind wir Menschen [mit Behinderungen] auch ein Teil der Gesellschaft.


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